Zwangsstörung behandeln: Die wichtigsten Therapiebausteine kurz erklärt
Als Goldstandard bei der Behandlung einer Zwangsstörung (OCD) gilt das Verfahren "Exposition mit Reaktionsmanagement", kurz ERM, bei dem es sich um ein Element aus der kognitiven Verhaltenstherapie handelt. Die englische und häufig geläufigere Abkürzung lautet "ERP" und steht für "Exposure and Response Prevention". Nebst ERM gibt es noch eine Reihe von weiteren hilfreichen Bausteinen, die den Therapieerfolg positiv beeinflussen und deutlich erhöhen können. Auf dieser Seite werden die einzelnen Bausteine vorgestellt.
Auch wenn Zwangsstörungen oftmals chronisch verlaufen, sind mit der richtigen Therapie eine deutliche und nachhaltige Reduktion der Symptome und ein erfülltes Leben möglich.
Die S3-Leitlinien für Zwangsstörungen (2022) von der dgppn (Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V.) bieten einen hervorragenden praxisbezogenen Leitfaden sowohl für die Diagnostik als auch die Behandlung von Zwangsstörungen. Die hier aufgeführten Informationen decken sich grundsätzlich mit den S3-Leitlinien, wurden aber um neue Erkenntnisse und persönliche Erfahrungen erweitert.
Die Behandlung einer Zwangsstörung kann die Geduld eines Betroffenen auf die Folter spannen. Die durchschnittliche Therapiedauer beträgt nämlich 6 - 12 Monate, wobei es auch deutlich kürzer oder länger gehen kann. In der Regel treten erste signifikante Fortschritte bereits nach rund 2 Monaten auf. Es gibt einige bekannte Faktoren, die einen Einfluss auf den Therapieverlauf und die Dauer haben können: Einsicht, Motivation, Schwergrad, Krankheitsdauer, Komorbiditäten, Medikamente, Angehörigeneinbindung und die Expertise des Therapeuten. Grundsätzlich lässt sich festhalten: Je schneller jemand nach Ausbruch einer Zwangsstörung die richtige Unterstützung erhält, desto milder ist gewöhnlich der Verlauf.
Manchmal kann die Therapie ins Stocken geraten oder auf 3 Schritte vorwärts folgen 2 Schritte zurück, was sehr frustrierend sein kann. Das einzige, was in solchen Momenten hilft, ist: Dranbleiben, dranbleiben, dranbleiben! Und dem Prozess vertrauen, der erwiesenermassen funktioniert.
Gut zu wissen: Mit dem richtigen Wissen und der richtigen Herangehensweise sind die Therapieaussichten bei einer Zwangsstörung heute sehr vielversprechend. Leider scheitert es aber oftmals genau daran. Bis Menschen mit einer Zwangsstörung sich in Behandlung begeben, die richtige Diagnose und eine adäquate Therapie erhalten, vergehen durchschnittlich 14 - 17 Jahre seit dem ersten Auftreten von Symptomen. Viele Betroffene, die sich teilweise bereits seit Jahren in Therapie befinden, haben noch nie eine Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) gemacht. Das ist insofern tragisch, als sie doch in der Behandlung von Zwangsstörungen als Goldstandard gilt.
Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM)
Bei der Behandlung einer Zwangsstörung (OCD) gilt Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) als Mittel erster Wahl. Das Verfahren ist sowohl wissenschaftlich belegt als auch in der Praxis erprobt, und somit nachweislich bei einer Mehrheit der Betroffenen wirksam. Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) bedeutet, dass man sich seinen Zwangsgedanken bewusst aussetzt (=> Exposition) und die hochdosierten unangenehmen Gefühle, wie Angst, Zweifel, Schuld, Scham oder Ekel, aushält, ohne dabei auf die bewährten Zwangshandlungen zurückzugreifen (=> Reaktionsmanagement). Dabei soll der Betroffene die Erfahrung machen und wieder lernen, dass die Gefühle von selbst nachlassen und die befürchteten Katastrophen ausbleiben. Dieser Vorgang wird dann mehrfach wiederholt, bis eine Gewöhnung (=> Habituation) einsetzt. Was sich technisch sehr einfach anhört, ist in der korrekten Ausführung hingegen nicht zu unterschätzen. Die Zwangsgedanken müssen schrittweise und wirkungsvoll adressiert werden, die Expositionen müssen vollständig durchgezogen werden und die Durchführung muss gänzlich freiwillig erfolgen. Letztendlich bedeutet Exposition, sich breitwillig seinen schlimmsten Albträumen auszusetzen, ohne Gegenwehr zu leisten. Dass dies kein Sonntagsspaziergang mit Frühlingsgefühlen werden wird, erklärt sich wohl von selbst. Exposition erfordert einiges an Überwindung und eine hohe Bereitschaft des Betroffenen, sich temporär schlecht fühlen zu wollen, um sich langfristig besser fühlen zu können. Und genau dabei kommen dann die weiteren Bausteine, wie z.B. Achtsamkeit, Akzeptanz und Selbstmitgefühl ins Spiel.
Beginne mit dem Notwendigen, dann tue das Mögliche - und plötzlich wirst du das Unmögliche tun. (Franz v. Assisi)
Psychoedukation
Psychoedukation im Rahmen einer Zwangsstörung ist elementar. Es geht darum, dass ein Betroffener psychologische Grundlagen über kognitive Prozesse, das Krankheitsbild und seine Funktionsweise so gut kennenlernt und versteht, dass er sich bei zukünftigen Episoden selbst zu helfen weiss. Zwangsstörungen verlaufen oftmals chronisch, d.h. wenn das Stresslevel ausreichend hoch ist, kann es immer wieder zu Durchbrüchen kommen. Mit dem richtigen Wissen können diese in der Regel zeitnahe wieder aufgefangen werden. Wichtige Elemente einer soliden Psychoedukation sind: Funktionsweise der Zwangsstörung, Funktionsweise von Gefühlen inkl. Gefühlskurve, Funktionsweise von Exposition und Reaktionsmanagement (ERM), Zusammenhang zwischen Denken, Fühlen und Handeln, häufige Denkfehler und kognitive Verzerrungen, kognitive Umstrukturierung, Leben im Spektrum, Verantwortungsbereiche, Anti-Strategien, Perspektivenwechsel, Defusion von Gedanken und Ausdehnung von Gefühlen (ACT = Akzeptanz- und Commitmenttherapie), Externalisierung der Zwangsstörung, Analyse-Strategien, u.v.m.
Einbezug der Angehörigen
Angehörige tragen oftmals zur Aufrechterhaltung einer Zwangsstörung (OCD) bei. Dahinter steckt aber keine böswillige Absicht, sondern es ist vielmehr so, dass gewisse gut gemeinte Verhaltensweisen den Verlauf der Krankheit begünstigen. Deshalb ist es wichtig, dass im Rahmen einer Therapie immer auch ein Blick aufs ganze System geworfen wird und die Angehörigen aufgeklärt werden. So übernehmen Angehörige z.B. immer mehr Aufgaben, die ein Betroffener sich selbst nicht mehr zutraut. Sie unterstützen ihn somit beim Vermeiden. Dabei ist Vermeiden genau der Treibstoff, der Ängste und Zwänge langfristig aufrechterhält. Angehörige gewähren oftmals auch die Rückversicherung, die ein Betroffener auf der Jagd nach absoluter Gewissheit verzweifelt sucht. Leider lernt er dadurch nicht, die Ungewissheit auszuhalten.
Du kannst die Wellen nicht aufhalten, aber du kannst lernen zu surfen. (Jon Kabat-Zinn)
Achtsamkeit und Akzeptanz
Zweifelsohne können Gefühle, Empfindungen und Gedanken bedrohlich sein. Die Bedrohung entsteht allerdings erst durch unsere Bewertung. Sich dessen bewusst zu sein und seinen inneren Prozessen achtsam zu begegnen, kann einem davor bewahren, sich nicht darin zu verlieren. Zwangsgedanken absorbieren unsere Aufmerksamkeit und richten sie auf die Zukunft. Die Achtsamkeit ist unser Anker in der Gegenwart. Sie kann uns jederzeit ins Hier und Jetzt zurückholen. Indem wir aufhören, unsere Gefühle, Empfindungen und Gedanken zu bekämpfen, geben wir ihnen die Chance, weiterzuziehen. Das nennt sich Akzeptanz. Achtsamkeit und Akzeptanz können den Umgang mit Zwangsgedanken und den daraus resultierenden, unangenehmen Gefühlen grundlegend verändern. Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) wird auch aus einer achtsamen Haltung heraus nicht zu einem Kindergeburtstag, ihre Drohgebärde erhält aber deutliche Risse.
Selbstmitgefühl
Die meisten Menschen mit Zwangsgedanken verurteilen sich selbst dafür, dass sie diese Gedanken haben. Unabhängig davon, dass Verurteilungen selten zielführend sind, sind sie in diesem Fall umso absurder, als dass die Betroffenen gar nichts dafür können, dass sie diese Gedanken haben. Sie verurteilen sich also für etwas, das gänzlich ausserhalb ihrer Kontrolle liegt. Selbstmitgefühl kann eine radikale Veränderung im Umgang mit sich selbst bedeuten. Statt sich zu verurteilen, begegnet man sich freundlich und spendet sich selbst das Mitgefühl und den Trost, die man so dringend benötigt. Das Leben ist schon schwer genug, insbesondere mit einer Zwangsstörung. Selbstmitgefühl hilft dabei, sich nicht noch unnötig weiteres Leid zuzufügen. Es geht auch darum, grosszügig mit sich selbst zu sein. Es wird sowohl im Therapieverlauf als auch danach immer wieder Ruckschläge geben. Das Selbstmitgefühl kann einem davor bewahren, sich im Sumpf des Selbstmitleids zu verlieren.
Wer ein Wofür im Leben hat, der kann fast jedes Wie ertragen. (Friedrich Nietzsche)
Visionsarbeit
Ein oftmals unterschätzter, aber aus meiner Sicht genauso wichtiger Baustein stellt die Visionsarbeit dar. Als Life Coach und Angst-Experte weiss ich, wozu Menschen fähig sind, wenn sie ein klares, farbenfrohes und detailreiches Bild von ihrem Zielzustand vor Augen haben. Wer einen starken Grund hat, sich Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) anzutun, wird eher bereit sein, es auch durchzuziehen. Im Zusammenhang mit einer Zwangsstörung ist "gesund zu sein" zwar ein starker Wunsch, aber für unser Gehirn, das in Bildern denkt, ist er leider zu wenig greifbar. Hierfür eignen sich besser konkrete Handlungen, die dann in allen Facetten ausgeschmückt werden. Bei jemandem mit einem Kontaminationszwang (Contamination OCD) könnte das z.B. eine Vision von folgendem Wunsch sein: "Ich möchte wieder einmal in einen Club gehen und die ganze Nacht durchtanzen."
Ressourcen stärken
Menschen mit einer untherapierten Zwangsstörung unterwerfen oftmals ihr ganzes Leben den Regeln ihrer Zwänge. Dabei kommen elementare Aktivitäten, die die eigenen Ressourcen stärken würden, leider häufig zu kurz oder werden sogar gänzlich vernachlässigt. Das ist insofern problematisch, als dass Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) sehr ressourcenintensiv ist. Es ist deshalb wichtig, dass ein Ausgleich geschaffen wird, der dem Betroffenen guttut und seine Batterien wieder auflädt. Schritt für Schritt sollen so Aktivitäten ins Leben geholt werden, die trotz den Zwängen noch oder wieder möglich sind. Das müssen keine grossen Dinge sein. Es geht vor allem darum, in Handlung zu kommen und Sachen zu machen, die einem persönlich Freude bereiten. Ideengeber kann dabei auch die eigene Kindheit sein. Was man damals gerne gemacht hat, könnte einem auch heute noch gefallen. Letztendlich stärken solche Aktivitäten nicht nur die eigenen Ressourcen, sondern sorgen auch für Lebensqualität. Hin und wieder bietet es sich sogar an, einfachere Expositionsübungen mit dem Thema "Ressourcen stärken" zu kombinieren.
Erfolge feiern
Jedem Fortschritt, und sei er noch so klein, sollte mit Stolz begegnet werden. Es geht darum, sich für seine Erfolge zu feiern und sich hin und wieder für seine strapaziösen Bemühungen zu belohnen. Die Zähmung einer Zwangsstörung ist kein Sonntagsspaziergang, sondern vielmehr mit harter Arbeit verbunden. Genau das verdient Anerkennung. Es kann hilfreich sein, ein Erfolgstagebuch zu führen. In diesem hält man alle Schlachten fest, die man gegen seine Zwänge gewonnen hat. An trüben Tagen, an denen sich alles so anfühlt, als hätte man seit Therapiebeginn keinerlei Fortschritte gemacht, kann ein Blick in das Erfolgstagebuch die verzerrte Wahrnehmung wieder korrigieren.
Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. (Aristoteles)
Medikamente (SSRI)
Zur Behandlung einer Zwangsstörung (OCD) können auch Antidepressiva (SSRI) eingesetzt werden. Diese sind bei den meisten Betroffenen aber weniger wirksam als Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM). Zudem kann es zu unerwünschten Nebenwirkungen kommen und die Symptome kehren nach dem Absetzen der Medikamente oftmals wieder zurück. Deshalb sollten sie nie als Mittel erster Wahl, sondern nur in Kombination mit Exposition eingesetzt werden. Medikamente können vor allem dann eine sinnvolle Ergänzung sein, wenn Exposition alleine keine ausreichende Verbesserung bringt, oder, wenn ein Betroffener aufgrund seiner schlechten Verfassung keine Expositionsbereitschaft aufweist. In diesem Fall können die Medikamente den Zustand zuerst einmal soweit stabilisieren, dass Exposition mit Reaktionsmanagement (ERM) überhaupt erst durchgeführt werden kann.
Das obige Zitat von Aristoteles bringt es auf den Punkt. Es geht nicht darum, sich für den einen oder anderen Therapiebaustein zu entscheiden, sondern sie im Idealfall zu kombinieren und von den positiven Wechselwirkungen zu profitieren. Einen Baustein würde ich allerdings von dieser Regelung ausnehmen, und zwar "Medikamente". Ich persönlich würde nur dann auf Medikamente zurückgreifen, wenn es gar nicht mehr anders geht. Das heisst, wenn ein Betroffener entweder nicht therapierbar ist oder gar keine Lebensqualität mehr vorzuweisen hat.
Vielleicht wird es in einigen Jahren besser Behandlungsmöglichkeiten geben, bis dahin würde ich dir aber empfehlen, auf diese bewährten Therapiebausteine zurückzugreifen. Gerne berate und unterstütze ich dich bei der Umsetzung.