Gefühle sind keine Beweise: Emotionale Beweisführung verstehen.
- Fabian Hollenstein

- 28. Sept.
- 9 Min. Lesezeit
Viele Betroffene halten Gefühle für Beweise – ein Denkfehler mit fatalen Folgen. Erfahre hier, was emotionale Beweisführung ist und wie du sie überwindest.

Einer der schwersten Kämpfe ist der zwischen dem, was man fühlt, und dem, was man weiss. (Unbekannt)
Gefühle sind nebst Gedanken ein zentraler Bestandteil des Menschseins. Ohne sie wären wir keine Menschen, sondern Maschinen. Und doch gibt es über Gefühle so manche Fehleinschätzung, die sich hartnäckig hält wie ein Diktator an der Macht. Eine davon ist die Überzeugung, dass Gefühle Beweise für die Realität seien. Warum dieser Denkfehler so plausibel wirkt und was er anrichtet, schauen wir uns jetzt an.
Gefühle als Beweise?
Gefühle. Der heilige Gral der Wahrheit. Was wir fühlen, entspricht der Realität. Gefühle sind Tatsachen, sie sind Fakten. Jedes Gefühl hat eine Bedeutung, jedes Gefühl ist ein Beweis. Ein Beweis dafür, dass die Situation so ist, wie wir sie fühlen.
Nun, wenn du das tatsächlich glaubst, dann hast du ein Problem.
Aber keine Sorge, du bist damit nicht alleine. Menschen mit einer Zwangsstörung unterliegen häufig dem Denkfehler, dass ihre Gefühle ein Beweis dafür wären, dass die Situation wirklich so ist, wie sie sich anfühlt.
Weil ich Angst habe, muss die Situation gefährlich sein.
Weil ich Ekel empfinde, muss das Objekt kontaminiert sein.
Weil ich Scham spüre, muss der Vorfall peinlich sein.
Weil ich Schuld fühle, muss mir ein Fehler unterlaufen sein.
Weil ich Zweifel wahrnehme, muss etwas im Busch sein.
Die Antwort lautet: Nein, nicht zwangsläufig! ;-)
Dieses Phänomen hat sogar einen Namen: Emotionale Beweisführung (emotional reasoning). Gemeint ist das emotionale Schlussfolgern: Ich fühle X, also stimmt Y. Gefühle werden als Fakten behandelt, obwohl sie keine sind.
Grundsätzlich gilt: Gefühle sind Gefühle. Nicht mehr, nicht weniger. Klar, Gefühle haben eine Funktion. Sie sind wichtig für uns: Sie können uns Hinweise geben, sie können Wegweiser sein. Doch sie sind niemals Beweise. Warum Gefühle uns täuschen können, wird klar, wenn wir uns ansehen, wie sie entstehen.
Wie Gefühle entstehen
Die weitverbreitete Annahme: Gefühle entstehen aus der Situation, in der wir uns befinden. Sehr wohl ist uns klar, dass die Gefühle ihren Ursprung in uns haben, dennoch haben wir die Überzeugung, dass die Verantwortung im Aussen liegt, eben in der Situation: Orte, Menschen, Aktivitäten, Gegenstände – sie sind es, die unsere Gefühle erzeugen.
Die harte Realität: Gefühle sind ein Produkt unserer Gedanken. Das heisst, wir nehmen die Situation über unsere Sinne wahr. Diese Wahrnehmung wird in unserem Gehirn analysiert und bewertet, und durch diese Bewertung entstehen dann die Gefühle. Wir fühlen, was wir denken. Nicht bewusst, denn diese Bewertungen passieren oft automatisch – aufgrund unserer Überzeugungen, Erfahrungen, Erinnerungen, Erwartungen sowie unserer Tagesform (z.B. Hunger, Stress, Müdigkeit). Fast wie Schablonen, die sich über die Wahrnehmung legen. Unsere Gefühle sind also hausgemacht – wir machen sie uns selbst. Die Verantwortung liegt im Innern. Und nein, das heisst nicht, dass wir Gefühle beliebig steuern könnten. Aber das ist ein anderes Thema. ;-)
Spüre ich Zweifel? Sehr gut, dann lass uns ein Beispiel machen, das dich garantiert überzeugen wird:
Stell dir mal vor, es ist Sonntagmorgen, du wachst auf, öffnest das Fenster, schaust raus und stellst fest, dass es regnet. Eine mögliche Reaktion wäre: "Verfluchte Scheisse, immer am Sonntag, wenn ich frei habe, regnet es. Jetzt muss ich wieder den ganzen verdammten Tag zu Hause herumsitzen. Mann, das kotzt mich einfach nur an. Wie scheisse ist das bitte alles?! Das Wetter ist scheisse. Das Leben ist scheisse. Alles ist scheisse."
Selbe Situation, eine weitere mögliche Reaktion: "Oh Mann, so schade, dass es heute regnet. Eigentlich wollte ich ja rausgehen, etwas unternehmen und die Sonne geniessen. Aber weisst du was, eigentlich bin ich ganz froh, dass es regnet. Denn wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich gar keine Lust rauszugehen. So kann ich es mir zu Hause gemütlich machen, einen heissen Kakao trinken und einen spannenden Roman lesen. Und sowieso: Es hat schon vier Wochen nicht mehr geregnet. Die Natur ist auch froh, wenn sie wieder mal etwas Wasser abkriegt."
Zweimal dieselbe Situation – und doch zwei komplett unterschiedliche Reaktionen und Gefühle. Im ersten Beispiel ist die Person zweifelsohne wütend. Im zweiten Beispiel ist sie vielleicht kurz enttäuscht, danach freut sie sich jedoch auf die neue Gegebenheit. Wenn die Situation für unsere Gefühle verantwortlich wäre, müssten beide Personen exakt dasselbe fühlen. Das tun sie aber nicht. Warum? Weil sie die Situation unterschiedlich interpretieren.
Kurz gesagt: Unsere Gefühle entstehen nicht aus der Situation, sondern aus der Bewertung der Situation.
Ein Gefühl spielt bei Zwangsstörungen eine besonders zentrale Rolle: Angst. Deshalb lohnt es sich, einen genauen Blick darauf zu werfen.
Angst: Wozu sie da ist
Angst wird häufig als Problem bezeichnet. Und ja, sie kann zu einem Problem werden – wie wir später noch sehen werden. Doch ganz grundsätzlich ist es vor allem eines, ein Gefühl. Ein überaus wichtiges mit einer klaren Funktion: Angst schützt unser Leben.
Ohne Angst wären wir nicht überlebensfähig. Wir würden einfach auf die Strasse laufen, ohne nach links oder rechts zu schauen. Wir würden uns sorglos ins tosende Meer stürzen, um zu schwimmen. Ohne Angst fehlt das natürliche Stoppsignal, das uns vor realen Gefahren schützt.
Angst ist also nicht unser Feind. Im Gegenteil – sie hilft uns. Sie ist ein eingebautes Warnsystem, das uns in Sekundenschnelle mobilisiert, wenn unser Leben bedroht ist.
Wenn wir uns plötzlich mit einer realen Bedrohung konfrontiert sehen, dann schaltet der Körper sofort auf Alarmmodus um: Puls nach oben, Muskeln anspannen, Atmung flach, volle Energie für Kampf oder Flucht. Angst hilft uns, zu überleben oder Schaden abzuwenden. Genau dafür ist sie da.
Das macht jedoch nur dann wirklich Sinn, wenn akute, reale Gefahr besteht. Und zwar jetzt, nicht irgendwann. Springt das System ohne reale Bedrohung an, sprechen wir von einem Fehlalarm. Diese Fehlalarme sind es, die den Alltag der Betroffenen zu einer Tortur machen. Wie das im Gehirn konkret abläuft, schauen wir uns als Nächstes an.
Was im Gehirn passiert
Genau hier setzt die emotionale Beweisführung an: Ein Gefühl wird wie ein Beweis behandelt – auch wenn es nur ein Fehlalarm ist. Unser Gehirn reagiert auf eine reale und eine eingebildete Gefahr sehr ähnlich. Für das Alarmsystem ist die Aufgabe klar: Meldet das Gehirn Gefahr, wird ein Alarm ausgelöst und die Kampf-oder-Flucht-Reaktion aktiviert. Das Motto: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig warnen. Dabei entsteht Angst. Diese fühlt sich subjektiv gleich an – egal, ob ein wildes Tier vor uns steht oder nur ein aufdringlicher Gedanke unser Bewusstsein streift.
Genau das passiert bei einer Zwangsstörung: Die Betroffenen laufen vor Dingen weg, die rational und objektiv betrachtet nicht gefährlich sind. Der Grund dafür ist, dass ihr Gehirn falsche Bewertungen in den neuronalen Netzwerken abgespeichert hat. Ein eigentlich harmloser Auslöser wird behandelt, als sei er lebensbedrohlich – und schon tobt der Alarm los.
Die Formel ist einfach: Alarm = Mobilisierung. Deshalb werden wir aktiv und kämpfen oder flüchten, und zwar auch dann, wenn es sich eben nur um einen Fehlalarm handelt. Das Problem dabei ist, dass genau diese Reaktion den Fehlalarm aufrechterhält.
Kurz gesagt: Die Angst fühlt sich immer echt an, aber sie ist nicht unbedingt wahr.
Wie der Fehlalarm durch unser Verhalten verstärkt wird, zeigt der Teufelskreis der Angst.
Der Teufelskreis der Angst
Wir versuchen, die vermeintliche Bedrohung abzuwenden, indem wir handeln. Wir vermeiden, kontrollieren, wiederholen, desinfizieren, grübeln oder rückversichern uns. Der Alarm klingt ab – wir fühlen uns erleichtert. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.
Doch genau dadurch signalisieren wir unserem Gehirn: "Es war richtig, Alarm zu schlagen. Es musste etwas getan werden, um zu überleben. Die Situation war also tatsächlich gefährlich." Und weil das Gehirn unser Leben bestmöglich schützen möchte, wird es beim nächsten Mal in derselben Situation den Alarm früher, lauter und schriller auslösen.
Unser Verhalten, die Zwangshandlungen, sorgt zwar kurzfristig für Erleichterung, hält uns aber langfristig im System gefangen: Angst => Handlung => Erleichterung => Mehr Angst.
Der Ausstieg beginnt damit, Angst korrekt einzuordnen.
Rationale und irrationale Angst unterscheiden
Um den Teufelskreis zu durchbrechen, müssen wir anfangen, rationale von irrationaler Angst zu unterscheiden. Das ist der erste Schritt. Sofern es sich um eine irrationale Angst handelt, müssen wir uns danach anders verhalten, als wir es bisher getan haben. Das bedeutet: Wir dürfen weder kämpfen noch flüchten. Statt auf eine Zwangshandlung zurückzugreifen, bleiben wir in der Situation, tun nichts und signalisieren dem Gehirn: "Es besteht keine Gefahr." Mit jeder Wiederholung wird der Alarm etwas leiser – bis er in der jeweiligen Situation vielleicht irgendwann ganz verstummt.
Auf den Punkt gebracht: Wir verhalten uns also so, als hätten wir gerade keine Angst. Immer, und immer wieder.
Das klingt einfach in der Theorie, ist in der Praxis aber gar nicht so leicht. Oder mit anderen Worten: It's simple but not easy. ;-) Dennoch führt kein Weg daran vorbei. Wir müssen das Verhalten ändern, wenn die Angst irrational ist. Wie können wir nun also erkennen, ob es sich um einen echten Alarm oder nur um einen Fehlalarm handelt? Die folgenden drei Tricks können dir helfen, die emotionale Beweisführung – also das automatische Schlussfolgern "weil ich es fühle, muss es stimmen" – zu durchbrechen:
Wo ist der Tiger?
Wann immer du Angst hast, kannst du dir die simple Frage stellen: Wo ist der Tiger? Wenn du in dem Moment unmittelbar vor dir einen Tiger siehst, der hungrig aussieht, die Zähne fletscht und dich anknurrt, dann tue bitte eins: Kämpfe, renne, schreie, tue irgendetwas, jetzt sofort! Ansonsten endest du als Tiger-Snack. Versprochen. ;-) Umgekehrt, wenn du keinen Tiger siehst, dann tue nichts. Weil dann ist dein Leib und Leben nicht bedroht. Es handelt sich um einen Fehlalarm. Der Tiger steht dabei natürlich sinnbildlich für alles, was tatsächlich gefährlich sein könnte – etwa ein wildes Tier, ein LKW, der auf dich zurast, oder ein Mann mit einem Messer in einer dunklen Gasse.
Haben alle Angst davor?
Bei rationalen Gefahren verspüren so gut wie alle Menschen Angst. Wenn tatsächlich plötzlich ein hungriger Tiger vor uns stehen würde, würde niemand cool bleiben. Die Gefahr ist real. Wer weiss, vielleicht gäbe es ein paar wenige Ausnahmen, die es für eine gute Idee halten würden, die Miezekatze zu streicheln. Aber alle anderen würden um ihr Leben rennen. Bei irrationalen Gefahren ist es genau andersherum. Die allermeisten Menschen haben keine Angst. Nur ein paar wenige, eben die mit einer Zwangsstörung und dem jeweiligen Zwangsthema, reagieren mit Angst.
Handeln oder Grübeln?
Wenn die Gefahr real ist, handeln wir meist rasch. Unsere Instinkte, unsere Reflexe übernehmen die Kontrolle – Handeln hat Priorität. Es geht darum, Schaden jetzt sofort abzuwenden. Vielleicht denken wir hinterher darüber nach und reflektieren, was da gerade passiert ist. Aber zuerst heisst es: raus aus der Gefahrensituation. Wenn die Gefahr hingegen eingebildet ist, dann ist es häufig genau andersherum. Wir zweifeln, denken, grübeln – stundenlang – und handeln dann vielleicht. Dieses Vorgehen wäre bei einer echten, akuten Gefahr hochriskant und könnte zu erheblichem Schaden führen.
Diese drei Tricks sind natürlich keine exakte Wissenschaft. Aber sie bieten dir eine Orientierungshilfe: Handelt es sich um eine reale Gefahr – oder eben nur um einen Fehlalarm? Anhand des Gefühls allein kannst du es nämlich nicht differenzieren. Angst ist Angst. Im Erleben fühlt sie sich gleich an – egal, ob Gefahr oder Fehlalarm. Sie ist da, du spürst sie. Sie fühlt sich echt an. Aber nur weil sie sich echt anfühlt, heisst das noch lange nicht, dass es stimmt und wahr ist.
Erkennen ist der erste Schritt, Trainieren der zweite – mithilfe von Exposition.
Exposition: Fehlalarm aushalten
Übung macht den Meister. Will heissen: Wir müssen uns immer wieder in Situationen begeben, die uns Angst machen und einen Fehlalarm auslösen, damit wir trainieren können, nicht mehr darauf zu reagieren. Genau dabei kann uns das Verfahren "Exposition mit Reaktionsmanagement" (Exposure and Response Prevention, abgekürzt ERP) unterstützen.
Sich dem Denkfehler "Gefühle sind keine Beweise" bewusst zu sein, ist im Rahmen einer Exposition extrem wertvoll. Denn Exposition bedeutet, sich seinen Gefühlen zu stellen und bewusst ins Unbehagen zu gehen. Wer versteht, dass ein Gefühl nur da ist, weil die Situation falsch bewertet wurde – und dass letztlich keine echte Gefahr besteht – ist eher bereit, diesen Schritt zu wagen. Das Wissen allein reicht nicht, aber es bildet die Grundlage, um es emotional neu zu lernen.
Indem du dich deinen Gefühlen immer wieder bewusst aussetzt, gibst du dem Gehirn die Chance, neue Bewertungen anzulegen. Der Alarm wird leiser, die Angst verliert an Intensität: Schritt für Schritt, Wiederholung für Wiederholung.
Auf den Punkt
Gefühle sind kein Abbild der Realität. Sie sind weder bedingungslose Wahrheiten noch unumstössliche Tatsachen. Ebenso wenig sind sie als Beweise zugelassen. Sie sind ein Produkt unserer Gedanken, genauer gesagt der Bewertung einer Situation. Wenn überhaupt, geben sie Aufschluss darüber, was wir von einer Situation halten, und nicht, wie eine Situation ist.
Angst erfüllt eine sinnvolle Funktion. Doch bei einer Zwangsstörung ist das System ausser Rand und Band geraten und produziert fortlaufend Fehlalarme. Solange diese Alarme durch Vermeiden, Kontrollieren, Grübeln, Waschen oder Zählen – also durch Zwangshandlungen – bestätigt werden, bleibt der Kreislauf bestehen.
Der Ausweg beginnt damit, rationale von irrationaler Angst zu unterscheiden und uns anders zu verhalten, als wir es bislang getan haben – und vor allem anders, als es sich gerade anfühlt: bleiben statt flüchten, nichts tun statt kämpfen. Das heisst: keine Zwangshandlungen. So kann das Gehirn wieder lernen: "So schlimm war's gar nicht. Keine Gefahr." Und mit der Zeit klingen die Fehlalarme ab.
Das hier beschriebene Prinzip gilt im Kern nicht nur bei Angst, sondern auch bei allen anderen Gefühlen, mit denen sich Betroffene einer Zwangsstörung herumschlagen – etwa Zweifel, Schuld, Scham oder Ekel. Wer ein Gefühl überwinden will, darf nicht mehr dagegen ankämpfen. Im Kern bedeutet das, die emotionale Beweisführung zu entlarven und nicht länger auf sie hereinzufallen.
Merke dir: Gefühle sind keine Beweise. Sie sind zweifelsohne echt, aber nicht zwangsläufig wahr.
Bevor du gehst, lass mich dir noch etwas mit auf den Weg geben: Eine Zwangsstörung ist nicht das Ende. Du kannst dir dein Leben zurückholen – ich bin der lebende Beweis dafür. Was ich geschafft habe, kann auch dir gelingen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Also, los geht's: Jeder Schritt zählt.
Und solltest du auf diesem Weg etwas Unterstützung brauchen, lass es mich wissen. Ich bin gerne für dich da – weitere Infos zu meiner Begleitung findest du unter Angebot.

