Recovery aus der Zwangsstörung: Wie ein starkes Warum hilft.
- Fabian Hollenstein
- 14. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Der Weg aus einer Zwangsstörung ist nicht leicht. Erfahre hier, wie du mit einem starken Warum deine Recovery stärkst und dir dein Leben schrittweise zurückholst.

Wenn die Sehnsucht grösser als die Angst ist, wird Mut geboren. Ohne Sehnsucht machen wir uns nicht auf den Weg. (Rainer Maria Rilke)
Es ist möglich, eine Zwangsstörung zu überwinden. Das setzt allerdings voraus, dass du bereit bist, etwas dafür zu tun. Doch Einsatz alleine reicht nicht. Du brauchst etwas, was dich zieht, was dich antreibt. Etwas, wofür du bereit bist, all die Strapazen auf dich zu nehmen.
Recovery ist kein Spaziergang
Und Strapazen gibt es viele. Der Weg raus aus einer Zwangsstörung ist weder ein Sonntagsspaziergang noch ein Kindergeburtstag. Ganz im Gegenteil: Es ist verdammt harte Arbeit. Therapie, Recovery und besonders Exposition – all das ist anstrengend, mühsam und oftmals auch frustrierend.
Ich vergleiche Exposition gerne mit folgendem Bild: Im Prinzip ist Exposition nichts anderes, als freiwillig durch die Scheisse zu robben. Keine Ahnung, wie du das siehst, aber ich finde, das klingt nicht gerade nach einem Hobby, das man sich gerne aussucht. ;-)
Und genau deshalb stellt sich die entscheidende Frage: Warum zum Teufel sollte man sich das antun?
Ein Ziel ohne Farbe
Eine oft genannte und völlig nachvollziehbare Antwort von Betroffenen lautet: „Ich will einfach wieder gesund sein.“ Das klingt logisch – ist in Wahrheit aber ein ziemlich schwacher Antrieb. Denn das Problem dabei ist, dass es ziemlich abstrakt ist. Wir haben keine konkrete Vorstellung davon, was es bedeutet, gesund zu sein. Klar, wir können unterscheiden zwischen „krank“ und „gesund“, aber darüber hinaus gibt das nicht sonderlich viel her. Es ist zu unspezifisch. Es ist wie ein Schwarz-Weiss-Foto: Man erkennt die Umrisse, aber die Farben fehlen. Und genau deshalb taugt „gesund sein wollen“ kaum als Motivator. Dafür robbt letztendlich niemand freiwillig durch die Scheisse, oder zumindest nicht sehr lange.
Dein echtes Warum finden
Viel entscheidender als die vage Vorstellung „irgendwann wieder gesund sein zu wollen“ ist eine andere Frage: Wenn ich keine Symptome mehr hätte, was wäre dann anders? Wie sähe mein Leben aus? Was würde ich dann tun oder lassen, was ich heute nicht mehr tue oder lasse? Wie wäre es denn, wenn es so richtig, richtig schön wäre?
Das, was dabei herauskommt, ist dein echtes Warum. Das sind Bilder, Vorstellungen und konkrete Ziele — viel greifbarer und lebendiger als ein abstraktes Endziel. Diese Dinge haben Zugkraft. Dafür bleibst du dran, auch wenn es schwierig ist. Dafür bist du bereit, freiwillig durch die Scheisse zu robben.
Hilfreiche Fragen
Folgende Fragen können dich dabei unterstützen, dein ganz persönliches Warum zu finden. Wichtig ist: Das muss keine einzelne Sache sein. Es können auch viele verschiedene Dinge sein. Es muss auch nichts Grosses sein, auch kleine Dinge zählen.
Wie sähe mein Leben ohne Zwangsstörung aus?
Was hat mir der Zwang weggenommen, was ich gerne wieder hätte?
Was würde ich in meinem Leben gerne ändern?
Was wollte ich schon immer mal tun, sehen oder erleben?
Versuche dabei möglichst viele für dich relevanten Lebensbereiche einzubeziehen, wie z.B. Beziehung, Familienplanung, Aus- und Weiterbildung, Beruf, Sozialkontakte, Freizeit, Hobbys, Reisen, Gesundheit, Spiritualität sowie Wünsche und Träume.
Jede Antwort, die dir einfällt, ist wertvoll. Dein Warum entsteht nicht in einem Moment, sondern wächst aus vielen kleinen Bausteinen.
Deine Collage
Mein Tipp: Schreib dein Warum nicht nur auf, sondern mach es sichtbar. Erstelle eine Collage – ein Visionboard deines Lebens aus der Zukunft, in allen Farben, Formen und Facetten. Egal, ob du dir dein Leben in fünf, zwei oder einem Jahr vorstellst – wichtig ist nur: In deiner Vorstellung hast du die Zwangsstörung überwunden.
Mach die Collage gross – mindestens A3, besser A2. Zeichne, male, schreibe, klebe Fotos oder Bilder aus Zeitschriften auf. Alles ist erlaubt. Es ist dein Bild der Zukunft, gestalte es so, wie es für dich stimmt.
Hänge die Collage an einen Platz, den du täglich siehst. Lass dich inspirieren, tragen, motivieren. Gerade in schwierigen Phasen kann sie dir den entscheidenden Schub geben: Stell dich davor, erinnere dich an dein Warum – und dann mach weiter und geh den nächsten Schritt.
Und wichtig: Deine Collage darf leben. Ergänze, verändere, erweitere sie. Dein Warum wächst mit dir.
Das Warum hat auch in meiner praktischen Arbeit einen festen Bestandteil. In den letzten drei Jahren (Mai 2022 – Aug 2025) habe ich rund 170 Betroffene begleitet. Und meine Erfahrung zeigt klar: Wer sein Warum visualisiert, hat einen Vorteil.
Mein eigenes Warum
Auch wenn ich nie systematisch über die Frage „Was ist mein Warum?“ nachgedacht habe – und folglich 2015 während meiner Therapie auch keine Collage hatte – gab es trotzdem ein Warum. Ein verdammt starkes sogar. Mein stärkster Antrieb war mein Sohn. Genauer: die Beziehung zu ihm. Ich wollte der Vater sein, den ich selbst nie hatte. Das war umso wichtiger, weil ich kurz nach seiner Geburt in die Suizidalität abgerutscht bin und in seinen ersten Lebensmonaten zwar körperlich da war, emotional aber nicht. Dieses Bild — für ihn wirklich präsent zu sein — hat mich durch diesen Prozess getragen und mich immer weitermachen lassen, auch wenn es schwierig war.
Aber es gab noch mehr. Mein Lebensradius war winzig. Ich war gefangen zwischen Arbeit und zu Hause, alles andere lag ausser Reichweite. Ich war nicht in der Lage, irgendwo alleine hinzugehen. Gleichzeitig war ich sozial isoliert, nicht wirklich Teil der Gesellschaft. Auch das wollte ich mir zurückholen. Wieder frei sein, mich bewegen, dazugehören.
Viktor Frankl und die Kraft eines Warums
Kaum jemand hat die Bedeutung eines starken Warum so eindrücklich beschrieben wie der Psychiater Viktor Frankl. Er überlebte mehrere Konzentrationslager, verlor fast seine gesamte Familie und musste alles ertragen, was einem Menschen Halt geben kann.
Frankl beobachtete, dass die Menschen bessere Chancen hatten durchzuhalten, wenn sie ein Warum hatten – einen Sinn oder eine Aufgabe, die über das nackte Überleben hinausging. Gleichzeitig fand er auch für sich selbst ein solches Warum: Er wollte überleben, um seine Erfahrungen aufzuschreiben, seine Therapieansätze weiterzugeben und Mitgefangenen Hoffnung zu geben. Gerade in einer Zeit, die scheinbar völlig sinnlos war, schenkte ihm das selbst Sinn und Kraft.
Sein berühmtes Zitat bringt es auf den Punkt:
Wer ein Warum zum Leben hat, erträgt fast jedes Wie.
Genau darum geht es auch hier: Dein Warum ist nicht einfach ein nettes Extra. Es ist dein innerer Anker, wenn es hart wird – dein Nordstern in der Dunkelheit. Ohne ein Warum bleibst du irgendwann stehen. Mit einem klaren Warum findest du die Kraft, weiterzugehen – Schritt für Schritt, egal wie steinig und mühsam der Weg ist.
Parallel fahren – nicht warten
Ein häufiger Denkfehler ist, zu glauben: „Erst muss ich den Zwang in den Griff bekommen – und dann kann ich mein Leben wieder aufnehmen.“ Klingt vernünftig, ist aber gefährlich. Wenn du wartest, bis „alles vorbei“ ist, verpasst du die Chance, die ersten zurückgewonnenen Freiräume sinnvoll zu füllen. Und dann holt sich der Zwang genau diese Freiräume oft wieder zurück.
Darum: Fahre parallel. Arbeite an deinem Zwang – und gleichzeitig an deinem Leben. Nutze jeden kleinen Schritt, jede gewonnene Freiheit sofort. Geh einen Kaffee trinken, triff dich mit Freunden, nimm dir ein Projekt vor, das dir wichtig ist. So wächst dein Leben Stück für Stück mit, während du den Zwang zurückdrängst.
Denn Recovery aus der Zwangsstörung ist kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch: Zwang abbauen und Leben aufbauen. Gleichzeitig.
Worauf es ankommt
Ein starkes Warum ist der Schlüssel, um durch die mühsamen Phasen der Recovery zu kommen. „Gesund sein wollen“ allein reicht nicht – zu abstrakt, zu schwach. Dein echtes Warum ist konkret, greifbar und lebendig. Es zeigt dir, wofür du durchhältst, wenn es schwierig wird.
Ob Beziehung, Freiheit, Zugehörigkeit oder Träume: Dein Warum trägt dich weiter, als es jede Technik allein je könnte. Es macht den Unterschied zwischen stehenbleiben und weitermachen.
Merke dir: Ein starkes Warum macht aus „Müssen“ ein „Wollen“.
Bevor du gehst, lass mich dir noch etwas mit auf den Weg geben: Eine Zwangsstörung ist nicht das Ende. Du kannst dir dein Leben zurückholen – ich bin der lebende Beweis dafür. Was ich geschafft habe, kann auch dir gelingen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Also, los geht's: Jeder Schritt zählt.
Und solltest du auf diesem Weg etwas Unterstützung brauchen, lass es mich wissen. Ich bin gerne für dich da – weitere Infos zu meiner Begleitung findest du unter Angebot.