Warum Vermeiden bei Angst und Zwang langfristig keine Option ist.
- Fabian Hollenstein

- 14. Sept.
- 5 Min. Lesezeit
Vermeiden scheint ein Ausweg zu sein, doch in Wahrheit verstärkt es Angst und Zwang. Erfahre hier, wie der Teufelskreis funktioniert und wie du ihn Schritt für Schritt durchbrechen kannst.

Gefahren zu vermeiden ist auf lange Sicht nicht sicherer, als sich ihnen direkt auszusetzen. Die Ängstlichen werden genauso oft getroffen wie die Mutigen. (Helene Keller)
Vermeidung ist die verlockende Falle, die dir sofortige Linderung verspricht und dir langfristig zum Verhängnis wird. Was kurzfristig hilft, wird langfristig zu einem echten Problem. Sie hält dich im Teufelskreis der Zwangsstörung gefangen.
Was bedeutet Vermeiden überhaupt?
Wir merken irgendwann, was uns triggert, und fangen an, einen grossen Bogen um diese Trigger zu machen. Trigger können Orte, Situationen, Menschen, Aktivitäten oder Gegenstände sein. Die Hoffnung dabei ist, dass wir dadurch weniger Zwangsgedanken und weniger starke und unangenehme Gefühle haben. Das funktioniert tatsächlich auch, doch gleichzeitig schränkt es unseren Lebensradius immer mehr ein.
Im Rahmen einer Zwangsstörung ist das Vermeiden eine Zwangshandlung. Zwangshandlungen werden von den Betroffenen genutzt, um sich zu beruhigen und die vermeintliche Gefahr abzuwenden.
Was ist das Problem beim Vermeiden?
Das Problem ist nicht, dass Vermeiden nicht funktioniert, sondern dass es zu gut funktioniert. Wer ausweicht, spürt sofort Entlastung. Die Anspannung fällt ab, die Angst lässt nach. Es fühlt sich an wie die perfekte Lösung: Situation vermieden, Angst gebannt, Problem gelöst.
Ein plastisches Beispiel: Stell dir vor, du hast Angst, dich anzustecken. Also fasst du die Türklinke nicht an, sondern öffnest sie mit dem Ellenbogen. Zack, Erleichterung.
Doch genau das ist die Falle. Dein Gehirn fühlt sich durch dein Verhalten bestätigt: "Der Typ ist ausgewichen, also muss es gefährlich gewesen sein. Gut, dass ich ihn gewarnt habe. Leben gerettet, Mission erfüllt. Nächstes Mal werde ich wieder warnen – vielleicht noch etwas schneller, lauter und schriller. Sicher ist sicher."
Dadurch verstärkt sich die Angst selbst. Der klassische Teufelskreis ist geboren: Trigger => Angst => Vermeiden => Erleichterung => noch mehr Angst.
Was kurzfristig hilft, macht dich langfristig zum Gefangenen. Denn dein Gehirn bekommt nie die Chance, die Erfahrung zu machen: Es wäre auch ohne Vermeiden gut gegangen.
Der Scheinriese-Effekt
Vielleicht erinnerst du dich noch an die Geschichte "Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer" von Michael Ende. Darin gibt es den Scheinriesen – eine Figur, die desto grösser wirkt, je weiter man von ihr entfernt ist. Je näher man kommt, desto kleiner wird sie.
Genauso verhält es sich mit der Angst: Je mehr du ihr ausweichst, desto grösser und bedrohlicher erscheint sie. Je mehr du auf sie zugehst, desto kleiner und unbedeutender wird sie.
Warum fühlt sich die Angst so echt an?
Kurzum: Weil sie echt ist. Nicht die Bedrohung, aber das Gefühl. Herzrasen, Schweiss, Enge in der Brust, flache Atmung, angespannte Muskeln. In solchen Momenten macht unser Nervensystem keinen Unterschied zwischen echter und eingebildeter Gefahr. Deshalb fühlt sich die Angst immer so überzeugend an – egal, ob sie berechtigt ist oder nicht. Für das Gehirn gilt: Alarm ist Alarm. Und genau hier liegt die Tücke: Weil sich die Angst so real anfühlt, wirkt Vermeiden wie die einzig logische Antwort. Sie beruhigt sofort – doch es löscht den Alarm nicht, sondern hält ihn am Leben.
Der Preis des Vermeidens
Vermeiden wirkt harmlos. Ein kleiner Umweg hier, ein Ausweichen dort – was soll’s? Doch genau so beginnt die Spirale. Erst meidest du eine einzelne Strasse, dann ein Quartier und am Schluss den ganzen verfluchten Ort. Irgendwann fängst du an, immer mehr Bereiche deines Lebens einzuschränken. Dein Lebensradius schrumpft. Dinge, die früher selbstverständlich waren, fühlen sich plötzlich unüberwindbar an. Was als kleine Vorsicht begann, endet in einem Käfig.
Glaub mir, ich weiss, wovon ich spreche. Ich war der König des Vermeidens. Über 20 Jahre lang war das meine primäre Strategie, gegen alles, was unangenehm war. Ich habe immer mehr vermieden, immer grössere Bögen gemacht, immer öfter den Schwanz eingezogen. Am Ende blieb kaum noch etwas übrig: Mein Zuhause und das Büro, und selbst dort habe ich mich nicht mehr wohl gefühlt. Alles war weg: Keine Hobbys, keine Freunde, kein gar nichts.
Damals musste ich auf schmerzhafte Weise lernen: Wer die Angst vermeidet, vermeidet das Leben.
Der Weg raus: Aufhören, davonzulaufen
Genau hier steckt der Schlüssel: Angst verschwindet nicht, wenn wir ihr ausweichen. Im Gegenteil – jedes Ausweichen macht sie stärker. Sie verliert nur dann an Macht, wenn wir uns ihr stellen.
Sei dir immer bewusst: Der Weg aus einem Gefühl heraus, führt immer mitten hindurch. Das gilt auch bei Angst. Wir müssen uns der Angst stellen.
Sobald du aufhörst, davonzulaufen, wird es besser. Nicht sofort, nicht vollständig – aber Schritt für Schritt. Jeder kleine Moment, in dem du bleibst statt flüchtest, ist ein Sieg, 1:0 für dich.
Vermeiden bei Angst und Zwang ist nicht die Lösung, sondern das Problem – es lindert nicht, es verstärkt.
So war es auch bei mir: Erst als ich das Vermeiden aufgegeben habe, wurde es besser. Damals habe ich 99% aller Situationen vermieden. Heute ist es genau umgekehrt – 99% vermeide ich nicht mehr. Das hat den Unterschied ausgemacht.
Eines habe ich gelernt: Vermeiden macht es nie besser, sondern immer schlimmer. Deshalb lautet mein Lebensmotto: Vermeiden ist keine Option.
Ein kurzer Exkurs: Exposition
Im Fachjargon nennt man diesen Weg "Exposition". Damit ist gemeint: sich den Situationen, die Angst machen, bewusst auszusetzen – ohne Flucht, ohne Umwege, ohne Sicherheitsrituale.
Exposition ist kein Spaziergang. Sie ist unbequem, manchmal brutal. Aber sie wirkt. Denn sie bringt dich immer wieder in dieselbe Erfahrung: Du kannst die Angst aushalten, die Angst lässt von alleine wieder nach, ohne dass du nachhelfen musst, und die befürchtete Katastrophe tritt trotzdem nicht ein. Genau das ist der Lernmoment: Mit jeder Exposition wird die Angst ein Stück kleiner, bis sie irgendwann nicht mehr das Leben bestimmt.
Auf den Punkt gebracht
Am Ende läuft alles auf eine simple Wahrheit hinaus: Vermeiden fühlt sich schlau an, ist aber eine der dümmsten Strategien überhaupt. Es gaukelt dir Sicherheit und Kontrolle vor, während es dich schleichend, aber erbarmungslos deiner Freiheit beraubt.
Der einzige Weg raus ist, nicht mehr wegzulaufen. Die Angst wirkt nur solange gross und mächtig, wie du vor ihr zurückschreckst. Sobald du einen Schritt auf sie zumachst und ihr die Stirn bietest, schrumpft sie in sich zusammen wie eine Zuckerwatte im Regen. Versprochen.
Merke dir: Das Einzige, was du vermeiden solltest, ist das Vermeiden selbst.
Mehr dazu im Podcast
Wenn du tiefer in dieses Thema eintauchen möchtest, empfehle ich dir gerne, in unsere Podcast-Folge #16 – Ist Vermeiden der Schlüssel zu weniger Angst? reinzuhören.
Bevor du gehst, lass mich dir noch etwas mit auf den Weg geben: Eine Zwangsstörung ist nicht das Ende. Du kannst dir dein Leben zurückholen – ich bin der lebende Beweis dafür. Was ich geschafft habe, kann auch dir gelingen. Davon bin ich felsenfest überzeugt. Also, los geht's: Jeder Schritt zählt.
Und solltest du auf diesem Weg etwas Unterstützung brauchen, lass es mich wissen. Ich bin gerne für dich da – weitere Infos zu meiner Begleitung findest du unter Angebot.

